"Was machen Sie beruflich?"


Das berufliche Leben als Patchwork, entstanden aus Neigungen, Begabungen und - dem Zufall. Einige "Grundfarben" tauchen immer wieder auf und halten alles zusammen. Mein besonderes Interesse gilt: Sprache(n); anderen Menschen und ihren Lebensgeschichten; alternativen Lebensentwürfen jenseits von Konsum und Hektik; fremden Kulturen (insbesondere China) und den reizvollen Unwägbarkeiten interkultureller Begegnungen.

Mittwoch, 30. Dezember 2020

Ein persönlicher Rückblick auf das Corona-Jahr 2020

Wenig überraschend wurde Corona-Pandemie von der Gesellschaft für deutsche Sprache (GfdS) zum Wort des Jahres 2020 gewält. Das Virus hat das gesamte Jahr geprägt, deutschlandweit, weltweit. Hier mein persönlicher, widersprüchlicher Corona-Rückblick auf dieses Jahr (garniert mit Bildern und Kampagnen zum Accessoire des Jahres):

Kindermasken

- Sprache: Ich habe viele neue Wörter gelernt oder in meinen Alltagswortschatz integriert, Anglizismen (Lockdown, Shutdown, Social-Distancing...), Arztwörter (Indidenzwert, vulnerabel, FFP2-Maske, Triage ...), Wortneuschöpfungen (AHA-Regeln, Alltagsmaske....). Manche Ausdrücke habe ich erst nach einiger Zeit begriffen (Zweimal Happy Birthday singen),  während ich die neue Formel Bleiben Sie gesund sofort in meine E-Mails übernommen habe. Die GfdS hat sich übrigens in mehreren lesenswerten Artikeln mit mit den Auswirkungen von Corona auf die deutsche Sprache beschäftigt.

Foto von Alf Trojan

- Zoom-Konferenz, auch so ein neues Wort. Alles plötzlich online. Online-Kurse, Online-Tai-Chi, Online-Geburtstagsfeiern, Online-Lesegruppe, Online-Weihnachtsessen. Erstaunlicherweise geht das, jedenfalls besser, als ich vorher dachte. Mein schönstes Online-Erlebnis war das Wiedersehen mit einer sehr lieben, früheren Mitbewohnerin beim traditionellen - aber dieses Mal eben virtuellen - Weihnachtstreffen meiner ehemaligen WG. Plötzlich war Maria dabei. Sie lebt schon lange in Spanien und ich habe sie bestimmt zwanzig Jahre nicht mehr gesehen. Spontane Vertrautheit über alle Kabel hinweg. 

- Neue Formen von "echten" Treffen, bewegter und viel öfter draußen. Selbst jetzt im Winter gehe ich mit Freundinnen ein paar Runden im Park, ausgerüstet mit Decke, Thermoskanne und Kuchen für eine kleine Rast auf der Parkbank. Das würde ich gerne beibehalten. Ebenso wie die Tanztreffen mit Jupp im Flur. Swing, mal ein Walzer, aber vor allem Tango. Wir haben sogar die alten Kassetten (ja, Kassetten!) aus unserer Zeit in Buenos Aires wieder ausgegraben. 

- Kulturveranstaltungen: Es wirft vielleicht ein zweifelhaftes Licht auf mich als Kulturschaffende im weiteren Sinne, aber ich muss gestehen, dass mir Konzerte, Theater, selbst Kino nicht besonders fehlen. Es gibt ja noch Musik, Bücher, Filme. Was ich vermisse sind vielmehr Begegnungen mit Menschen, spontan oder geplant, Umarmungen, Diskussionen, gemeinsames Schlemmen... (Alles geht eben doch nicht online.)

- Vorlesen: Ich weiß nicht genau, ob es mit Corona zusammenhängt, aber ich habe dieses Jahr einige richtig dicke Wälzer gelesen (zwischen 700 und 1400 Seiten), Klassiker der chinesischen und deutschen Literatur (Die Reise in den Westen, Die Räuber vom Liangshan Moor, Die Abenteuer des Simplicissimus Deutsch) Und nicht nur gelesen, sondern vorgelesen. Ein richtiges Vergnügen! Als nächstes ist Don Quijote von der Mancha dran.

Mein China-Buch: Es ist coronabedingt nicht im August erschienen und wird nun auch im Januar nicht erscheinen. Vielleicht in der zweiten Jahreshälfte 2021, doch der Verleger wagt keine feste Zusage mehr, da der Reisebuchmarkt, anders als der Buchmarkt allgemein, "dramatisch" eingebrochen sei. Die Hoffnung, dass Menschen gerne von anderen Ländern lesen, wenn sie selbst nicht reisen können, habe sich nicht erfüllt. Frustrierend! 

- Landlust: Seit ich mit 19 mein Heimatdorf verlassen habe und in die Stadt gezogen bin, habe ich mich als überzeugten Stadtmenschen gesehen. Auch unterwegs haben mich eher Metropolen fasziniert, Buenos Aires, Istanbul, Beijing. Jetzt plötzlich kommen mir Gedanken, wie es wohl wäre, auf dem Land zu leben! Das irritiert mich. Hat es mit dem Alter zu tun oder doch mit Corona? Auch in meinem Umfeld stelle ich auf einmal diese merkwürdige Idealisierung des Landlebens fest. Städte verlieren ihren Reiz, wenn sie nicht mehr für eine Fülle an Möglichkeiten stehen und Orte der unverhofften Begegnung sind. Das Land verspricht Platz, einen eigenen Garten, Spazierengehen ohne Menschenmassen, Natur ...

- Bubbles: Jeder lebt in seiner Blase. Theoretisch wusste ich das schon vorher. Aber durch Corona-Diskussionen bis in den engsten Freundeskreis hinein wurde mir so richtig deutlich, wie schwierig Verständigung geworden ist. Nicht einmal darüber, ob dieses Virus nun wirklich schlimm oder doch eher harmlos ist, lässt sich noch Einigkeit herstellen. Und schon gar nicht darüber, was sich dagegen tun lässt. Jede Seite beruft sich auf wissenschaftliche Quellen und gesicherte Informationen. Jede Seite hält die andere für bescheuert, weil sie entweder dem Mainstream hinterherläuft oder sich von Idioten manipulieren lässt. Das ist anstrengend und macht mir Angst.

- Dankbarkeit: für alles Schöne, was ich schon erleben durfte. Für die Reisen, das Leben im Ausland, tolle Feste, innige Umarmungen. Das macht es mir leichter, eine Weile darauf zu verzichten.