"Was machen Sie beruflich?"


Das berufliche Leben als Patchwork, entstanden aus Neigungen, Begabungen und - dem Zufall. Einige "Grundfarben" tauchen immer wieder auf und halten alles zusammen. Mein besonderes Interesse gilt: Sprache(n); anderen Menschen und ihren Lebensgeschichten; alternativen Lebensentwürfen jenseits von Konsum und Hektik; fremden Kulturen (insbesondere China) und den reizvollen Unwägbarkeiten interkultureller Begegnungen.

Sonntag, 31. Mai 2020

Eine Welt "ohne Außen" - Buchbesprechung


Kalligraphie von Sun Yatsen (1924)
In der Corona-Krise wird wieder einmal deutlich, was eigentlich schon alle wissen: Es gibt Probleme, die nicht einzelne Staaten, sondern die Welt als Ganzes angehen und die nur von einer Weltgemeinschaft gelöst werden können. Dazu gehören nicht nur Pandemien, sondern auch Klimawandel und Terrorismus, Hunger, Kriege, Flüchtlingsbewegungen und der Umgang mit dem technologischen Fortschritt. Gleichzeitig wird in Krisenzeiten aber auch immer wieder klar, dass gerade mächtige Staaten oft nicht zur Zusammenarbeit bereit sind und stattdessen nach dem größten Nutzen für das eigene Land streben. Wie könnte eine Welt aussehen, die tatsächlich politisch als Weltgemeinschaft agiert und nach Sicherheit und dem größtmöglichen Nutzen für alle Beteiligten strebt?

Darüber macht sich der chinesische Philosoph ZHAO Tingyang seit geraumer Zeit seine Gedanken und nun sind sie endlich auch auf Deutsch unter dem Titel "Alles unter dem Himmel. Vergangenheit und Zukunft der Weltordnung" bei Suhrkamp erschienen. Im System des "Tianxia 天下", ("Alles unter dem Himmel"), wie es im antiken China vor rund 3000 Jahren entwickelt und erprobt wurde, sieht er einen Ansatz für eine alternative globale politische Ordnung.

Dienstag, 19. Mai 2020

Von Baustellen und Betrachtungsweisen

Vor meinem Haus ist eine Baustelle. Seit Wochen wird die Straße aufgerissen, alte Rohre werden herausgenommen, neue verlegt. Morgens ums sieben beginnt der Presslufthammer zu dröhnen, das ganze Haus bebt. Ich bin total genervt.

Bis mir einfällt, wie begeistert Emil, der kleine Sohn einer Freundin, von der Sache wäre. Für ihn ist jedes Feuerwehrauto, jeder Bagger und jede Baustelle eine total spannende Angelegenheit, die genauestens beobachtet werden muss.
Ich versuche es also mal mit seiner Betrachtungsweise. Sehe überhaupt mal hin. Es ist wirklich spannend, wie Rohre ausgetauscht werden, was nacheinander zu tun ist, welche Maschinen es gibt und wie dick eine Asphaltdecke ist. Und weil ich letzten Endes doch immer mehr auf Menschen als auf Maschinen fokussiert bin, beobachte ich auch die Arbeiter, wie sie miteinander umgehen, wann und wie sie Pause machen...
Danke Emil!

Samstag, 16. Mai 2020

Neuer Blick auf den "Revoluzzer" von Erich Mühsam


Zum 75. Jahrestags des Kriegsendes gab es am 9. Mai auf der KulturBühne des Bayerischen Rundfunks ein Konzert mit dem Liedermacher Konstantin Wecker, das live gestreamt wurde (wie man das in Corona-Zeiten eben so macht). Dabei sang er auch seine Vertonung des Gedichts "Der Revoluzzer" von Erich Mühsam von 1907. Dabei geht es um einen Mann, "im Zivilstand Lampenputzer", der mit den Revoluzzern mitmarschiert und sich dabei höchst verwegen vorkommt.
Und er schrie: "Ich revolüzze!"
Und die Revoluzzermütze
schob er auf das linke Ohr,
kam sich höchst gefährlich vor.
Seine Hochstimmung ändert sich jedoch als die Revoluzzer beginnen, die Gaslaternen, die er sonst putzt, aus dem Boden zu rupfen, "zwecks des Barrikadenbaus".
 Aber unser Revoluzzer
schrie: "Ich bin der Lampenputzer
dieses guten Leuchtelichts.
Bitte, bitte, tut ihm nichts!

Wenn wir ihn' das Licht ausdrehen,
kann kein Bürger nichts mehr sehen.
Laßt die Lampen stehn, ich bitt! ­
Denn sonst spiel ich nicht mehr mit!"
 Doch die anderen Revoluzzer lachen ihn nur aus und der Lampenputzer schleicht sich bitterlich weinend fort.
Dann ist er zu Haus geblieben
und hat dort ein Buch geschrieben:
nämlich, wie man revoluzzt
und dabei doch Lampen putzt.
Mühsam (Bundesarchiv) 
Erich Mühsam (1878-1934) war ein deutscher Schriftsteller und Publizist, der von den Nazis im KZ Oranienburg ermordet wurde. Der Anarchist und Bohemien hat dieses Gedicht "der deutschen Sozialdemokratie" gewidmet, um sich über deren halbherzige Revolutionsversuche lustig zu machen. Der revoluzzende Lampenputzer ist eine Spottgestalt, die zeigen soll, dass der revolutionäre Elan bei manchen nur solange trägt, bis eigene Interessen in Mitleidenschaft gezogen werden.

Doch als ich dieses Gedicht jetzt wieder hörte, verfehlte es seine beabsichtigte Wirkung. Ich entwickelte stattdessen Sympathien mit dem Lampenputzer. Hat er nicht recht? Er kämpft ja nicht einmal für seine eigenen Interessen, sondern für das Gemeinwohl, wenn er will, dass die Bürger nachts auf den Straßen sicher gehen können. Geht es nicht eigentlich darum, die Gesellschaft grundlegend zu verändern, ohne alles kaputtzumachen und ohne alle positiven Errungenschaften zu verlieren, also im Grund darum "wie man revoluzzt und dabei doch Lampen putzt"?