"Was machen Sie beruflich?"


Das berufliche Leben als Patchwork, entstanden aus Neigungen, Begabungen und - dem Zufall. Einige "Grundfarben" tauchen immer wieder auf und halten alles zusammen. Mein besonderes Interesse gilt: Sprache(n); anderen Menschen und ihren Lebensgeschichten; alternativen Lebensentwürfen jenseits von Konsum und Hektik; fremden Kulturen (insbesondere China) und den reizvollen Unwägbarkeiten interkultureller Begegnungen.

Sonntag, 31. Mai 2020

Eine Welt "ohne Außen" - Buchbesprechung


Kalligraphie von Sun Yatsen (1924)
In der Corona-Krise wird wieder einmal deutlich, was eigentlich schon alle wissen: Es gibt Probleme, die nicht einzelne Staaten, sondern die Welt als Ganzes angehen und die nur von einer Weltgemeinschaft gelöst werden können. Dazu gehören nicht nur Pandemien, sondern auch Klimawandel und Terrorismus, Hunger, Kriege, Flüchtlingsbewegungen und der Umgang mit dem technologischen Fortschritt. Gleichzeitig wird in Krisenzeiten aber auch immer wieder klar, dass gerade mächtige Staaten oft nicht zur Zusammenarbeit bereit sind und stattdessen nach dem größten Nutzen für das eigene Land streben. Wie könnte eine Welt aussehen, die tatsächlich politisch als Weltgemeinschaft agiert und nach Sicherheit und dem größtmöglichen Nutzen für alle Beteiligten strebt?

Darüber macht sich der chinesische Philosoph ZHAO Tingyang seit geraumer Zeit seine Gedanken und nun sind sie endlich auch auf Deutsch unter dem Titel "Alles unter dem Himmel. Vergangenheit und Zukunft der Weltordnung" bei Suhrkamp erschienen. Im System des "Tianxia 天下", ("Alles unter dem Himmel"), wie es im antiken China vor rund 3000 Jahren entwickelt und erprobt wurde, sieht er einen Ansatz für eine alternative globale politische Ordnung.

Wie können aus Feinden Freunde werden?

Damals besiegte ein relativ kleiner, unbedeutender Staat (aus dem dann die Zhou-Dynastie hervorging) dank der Unterstützung zahlreicher anderer Kleinstaaten den zentralen militärisch überlegenen Staat und stand plötzlich vor einem historisch völlig neuen Problem: Wie sollte dieser kleine Staat das neue große Reich regieren und eine von allen akzeptierte Herrschaft etablieren und aufrechterhalten? "Klassische" Herrschaftsformen, die auf zahlenmäßiger Überlegenheit oder militärischer Stärke basierten, fielen aus. Um als Staat bestehen zu können und sich die Anerkennung und Akzeptanz der anderen Staaten zu sichern, musste die Zhou-Dynastie ein übergeordnetes Netzwerk schaffen, "ein System gemeinsamen Nutzens und gemeinsamer Nutzenteilhabe ... von dessen Akzeptanz sich alle Staaten und Menschen größere Vorteile versprechen als von seiner Zerstörung". (72) Nur so konnten die allgemeine Sicherheit und ein dauerhafter Frieden garantiert werden. Dazu mussten Voraussetzungen für das Allgemeinwohl geschaffen und ein Netzwerk gegenseitiger Abhängigkeiten und Kooperationen entwickelt werden. Zentrale Fragen waren, wie aus Feinden Freunde werden und wie man unterschiedlichste Kulturen integrieren und zur Zusammenarbeit bewegen kann. Die Idee des Tianxia umfasste im Prinzip die gesamte damals bekannte Welt, eben "alles unter dem Himmel", es war ein System, an dem jeder teilhaben konnte, eine Welt "ohne Außen".

Globalisierung erfordert Weltpolitik

Dieses System, das über mehrere Jahrhunderte hinweg erfolgreich war, schuldete seine Entstehung einer spezifischen historischen Konstellation. Dennoch, so ist Zhao überzeugt, können wir daraus für die heutige Zeit etwas lernen.
"Ohne Frage ist Tianxia ein Begriff der chinesischen Antike, aber kein Begriff, der sich speziell auf China bezieht, die darin aufgeworfenen Fragen reichen weit über China hinaus, es sind universelle Fragen der gesamten Welt." (13)
Er sieht auch die heutige Welt vor einer historisch einmaligen Veränderung: In Zeiten der Globalisierung neige sich die Zeit der souveränen Nationalstaaten allmählich dem Ende zu. Stattdessen übernehmen immer stärker global agierende Netzwerke (Finanzen, Hochtechnologie, soziale Medien) die Macht. Eine Situation, die im schlimmsten Fall zur Selbstvernichtung der Menschheit führt, es im günstigsten Fall aber auch ermöglicht, neue Spielregeln zu etablieren. Um adäquat auf die Veränderungen zu reagieren, die neuen Mächte zu kontrollieren und in Bahnen zu lenken, die der Menschheit nutzen, bedarf es jedoch einer Weltpolitik, die diesen Namen wirklich verdient. "Anders sind allgemeine Sicherheit, Koexistenz und Kooperation der Menschheit nicht sicherzustellen. Das bedeutet, Weltpolitik ist eine objektive Notwendigkeit, keine Wertvorstellung". (197) Doch bisher reagieren die einzelnen Staaten nach außen wie egoistische Individuen, die vor allem den eigenen Nutzen im Blick haben. Es gilt das Recht des Stärkeren, wovon bisher vor allem die USA und Europa profitierten. Internationale Politik ist unter diesen Bedingungen im Grunde nur "feindselige Konkurrenz unter dem Deckmantel von Politik (einschließlich von Kriegen)". (184)


Handeln in Übereinstimmung mit dem "Dao des Himmels"

Welche Bedingungen müsste eine Weltordnung erfüllen, wenn sie wirklich Weltinteressen dienen will und was kann man aus dem zhou-zeitlichen Tianxia-System für die heutige Situation übernehmen? Dazu nennt Zhao folgende Punkte:
  • Natur und Schöpfung sind der Maßstab, der die Freiheit des Menschen begrenzt, da eine Störung des natürlichen Gleichgewichts zur Selbstvernichtung führen kann. "Die Auslöschung der Menschheit durch von ihr geschaffene, aber nicht kontrollierbare Kräfte ist eine reale Möglichkeit, Vernichtung durch gegenseitiges Abschlachten oder Rache der Natur." (215) Man muss also, wie es im alten China hieß, im Einklang mit dem "Dao des Himmels (oder der Natur)" agieren. Das bedeutet eine Abwendung vom reinen Fortschrittsglauben der Moderne. "Die grundlegende Verantwortung des Tianxia-Systems besteht darin, Menschen durch die Macht des Systems daran zu hindern, Risiken einzugehen, für deren Konsequenzen sie keine Verantwortung übernehmen können." (229).
  • So wie die Natur sich durch ein Nebeneinander von unglaublicher Vielfalt auszeichnet, sollte auch Weltpolitik eine Ordnung des "Gewähren- und Fortlebenlassens alles Lebenden" (202), ermöglichen, "die das Wachstum und den Reichtum aller Schöpfung befördert". (202). Das beinhaltet die Akzeptanz und Koexistenz unterschiedlicher Lebensweisen, Religionen und Weltanschauungen. Hier sieht Zhao in der Vergangenheit mit dem Aufkommen des Christentums einen historischen Wendepunkt. Zum ersten Mal beanspruchte eine Religion nicht nur, die alleinige spirituelle Wahrheit zu besitzen, sondern nahm für sich auch die Verpflichtung und das Recht in Anspruch, diese Wahrheit allen anderen aufzudrücken. Eine Denkweise, die später auch auf nichtreligiöse Weltanschauungen übertragen wurde und zu einer Kampf-Logik zwischen verschiedenen Dogmen führte.
  • Das Tianxia-System steht jedoch allen offen und ist darauf angelegt, Grenzen zu überwinden und ein Zusammenleben aller zu ermöglichen. "Dass durch politische Entitäten wie Individuum, Nation, Staat, Religion definierte politische Logiken nicht in der Lage sind, eine Weltordnung allgemeiner Teilhabe zu entwickeln und Probleme im Weltmaßstab zu lösen, hat seine Ursache darin, dass durch Grenzen bestimmte Konzepte gedanklich nicht auf die Welt ausgerichtet sind und nicht auf die Welt vorbereiten."(213) Statt Grenzen zu ziehen, müssen Beziehungen gegenseitiger Ergänzung und Unterstützung geschaffen werden. Kriege sind ausgeschlossen und Konkurrenz wird so minimiert, dass anderen kein ernsthafter Schaden zugefügt werden kann.

Die Rationalität des guten Handelns

Das hört sich vielleicht, von unserer heutigen Prägung gedacht, alles zu idealistisch an. Aber:
"Ein neues Tianxia-System ist kein Märchen von der allgemeinen Glückseligkeit, sondern der Versuch ein System zu schaffen, das der Menschheit allgemeine Sicherheit und gemeinsame Nutzenteilhabe garantiert. Es ist kein neues System der Weltherrschaft, sondern ein System zum Schutz einer Welt "ohne Außen". Es verfolgt die Absicht, eine koexistentielle Daseinsform der Welt zu sichern, die mit der Moderne entstandene exklusive Daseinsform aufzugeben und damit die Menschheit vor dem Schicksal eines völligen Scheiterns zu bewahren." (228)
Wie es genau aussehen soll, wer z.B. ein solches System überhaupt etablieren könnte, bleibt in weiten Teilen vage und es wäre wohl auch im Grunde unseriös, so zu tun, als könnte man das jetzt schon wissen. Doch dadurch, das Zhao Tingyang sich auf ein Konzept bezieht, das – wenn auch vor sehr langer Zeit – zumindest schon einmal in Ansätzen existiert hat und untersucht werden kann, holt er seine Idee sozusagen vom Himmel auf die Erde und rückt sie damit in den Bereich des Machbaren.

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