Es gibt Parallen zwischen dem jungen Goethe und seiner Figur. Goethe soll nach dem Willen seines Vaters Anwalt werden. Er studiert Jura und eröffnet eine Anwaltskanzlei. Doch eigentlich will er zeichnen und dichten, hat bereits ein paar Gedichte und Dramen veröffentlicht. Ohne großen Erfolg. Bei einem Praktikum in Wetzlar verliebt er sich in Charlotte Buff, die bereits verlobt ist. Er verlässt die Stadt, doch anders als Werther bringt er sich nicht um, sondern schreibt ihn wenigen Wochen diesen Briefroman, der zum Bestseller wird und ihn auf einen Schlag in ganz Europa berühmt macht. Werther ist Kult, junge Menschen kleiden sich nach seinem Vorbild (blauer Frack und gelbe Weste) und es gibt sogar unglücklich Verliebte, die Selbstmord á la Werther begehen.
Das Lebensgefühl dieses jungen Mannes sprach anscheinend eine ganze Generation an. Das Leiden an der Gesellschaft, der Wunsch, anders - leidenschaftlicher, ungebundender, freier - leben zu können. Und die Angst, ausgestoßen und einsam zu sein, wenn man diesen Wünschen folgt, nirgendwo dazuzugehören. Auch mich hat das angesprochen, mehr als die Liebesgeschichte.
Die meisten verarbeiten den größten Teil der Zeit, um zu leben, und das bißchen, das ihnen von Freiheit übrig bleibt, ängstigt sie so, daß sie alle Mittel aufsuchen, um es los zu werden." (10)
Ein Mensch, der um anderer willen, ohne daß es seine eigene Leidenschaft, sein eigenes Bedürfnis ist, sich um Geld oder Ehre oder sonst was abarbeitet, ist immer ein Tor. (45)
Ich habe manchmal so einen Augenblick aufspringenden, abschüttelnden Muts, und da - wenn ich nur wüßte wohin? ich ginge wohl. (49)
Ist nicht vielleicht das Sehnen in mir nach Veränderung des Zustandes eine innere unbehagliche Ungeduld, die mich überall hin verfolgen wird. (61)
Das Buch war damals nicht nur Schullektüre für mich, ich habe es auch auf eine Interrailtour mit meiner besten Freundin durch Frankreich und Italien mitgenommen (daher Massimo).
Nun habe ich den Roman noch einmal gelesen, um mit meiner Nichte, die ihn jetzt in der Schule durchnimmt, darüber zu reden. Sie findet es ziemlich blöd, dass Werther sein ganzes Glück von einer einzigen Person abhängig macht. Und fragt sich, ob er nicht vielleicht eine bipolare Störung hat, so wie er zwischen himmelhochjauchzend und zu Tode betrübt schwankt, zwischen dem Gefühl, ein Genie zu sein, und Minderwertigkeitskomplexen. Tatsächlich finde auch ich heute vieles von dem Gefühlsüberschwang schwer erträglich, dieses Suhlen in Selbstmitleid. Und wie er versucht, der Geliebten mit seinem Selbstmord und dem letzten Brief unerträgliche Schuldgefühle zu erzeugen! Das ist schon alles harter Tobak. Und doch... Ein paar von den unterstrichenen Sätzen würde ich immer noch unterstreichen.
Wenn wir uns selbst fehlen, fehlt uns doch alles. (61)
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