"Was machen Sie beruflich?"


Das berufliche Leben als Patchwork, entstanden aus Neigungen, Begabungen und - dem Zufall. Einige "Grundfarben" tauchen immer wieder auf und halten alles zusammen. Mein besonderes Interesse gilt: Sprache(n); anderen Menschen und ihren Lebensgeschichten; alternativen Lebensentwürfen jenseits von Konsum und Hektik; fremden Kulturen (insbesondere China) und den reizvollen Unwägbarkeiten interkultureller Begegnungen.

Dienstag, 1. März 2022

Aus aktuellem Anlass: Krieg und Frieden

"Gegen Ende des Jahres 1811 hatte eine verstärkte Rüstung und Konzentration aller Streitkräfte im westlichen Europa eingesetzt, und im Jahre 1812 bewegten sich nun diese Kräfte - Millionen Menschen, ... vom Westen nach Osten auf die Grenzen Rußlands zu, wo man ebenfalls schon seit dem Jahre 1811 Rußlands Streitkräfte zusammengezogen hatte. Am 12. Juni überschritten diese westeuropäischen Streitkräfte die Grenzen Rußlands und der Krieg brach aus, das heißt, es vollzog sich ein Ereignis, das aller menschlichen Vernunft und Natur zuwiderlief: Millionen Menschen begingen gegeneinander eine so unzählige Menge von Verbrechen, Betrügereien, Verrat, Diebstahl, Fälschung von Banknoten und deren Weitergabe, Räubereien, Brandstiftungen und Mord- und Greueltaten, wie sie die Chronik aller Gerichte der Welt während ganzer Jahrhunderte nicht zu verzeichnen hat, und die die Menschen jener Zeitperiode, die sie verübten, nicht einmal für Verbrechen hielten.

Wodurch war dieses außergewöhnliche Ereignis hervorgerufen worden? Was waren die Gründe dafür? Die Historiker behaupten mit naiver Überzeugung, daß dieses Ereignis durch folgende Ursachen herbeigeführt worden sei: durch Beleidigungen, die man dem Herzogtum Oldenburg zugefügt habe, durch Übertretung des Kontinentalsystems, durch die Herrschsucht Napoleons, die Unbeugsamkeit Alexanders, die Fehler der Diplomaten und so weiter und so weiter. Man kann verstehen, daß den Zeitgenossen die Sache in diesem Licht erschien. ... Für uns Nachfahren, die wir keine Historiker sind, ... stellen sich die Gründe für diesen Krieg in ungezählten Mengen dar. Je tiefer wir uns in die Erforschung dieser Gründe versenken, um so mehr von ihnen werden uns offenbar, und jeder einzelne Grund oder jede einzelne Folge von Gründen für sich allein genommen erscheint uns an und für sich gleich richtig, ebenso aber auch gleich falsch, wenn wir die Nichtigkeit dieser einzelnen Gründe mit der gewaltigen Tragweite der Ereignisse vergleichen. ...

Demnach mußten alle diese tausende von Gründen zusammentreffen, um das hervorzubringen, was sich ereignet hat, und folglich gibt es keinen ausschließlichen Grund für dieses Ereignis... Millionen Menschen mußten also, aller ihrer Menschengefühle und all ihres Menschenverstandes bar, von Westen nach Osten ziehen und ihresgleichen totschlagen, ganz ebenso wie vor ein paar Jahrhunderten Scharen von Menschen von Osten nach Westen gezogen waren und ihresgleichen erschlagen hatten. 

... je mehr wir uns bemühen, diese Erscheinungen in der Geschichte zu begreifen, um so sinnloser und unbegreiflicher erscheinen sie uns."

zitiert nach: Leo Tolstoi: Krieg und Frieden. Düsseldorf, 2002, S. 824ff (Erstauflage1868/69)


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