"Was machen Sie beruflich?"


Das berufliche Leben als Patchwork, entstanden aus Neigungen, Begabungen und - dem Zufall. Einige "Grundfarben" tauchen immer wieder auf und halten alles zusammen. Mein besonderes Interesse gilt: Sprache(n); anderen Menschen und ihren Lebensgeschichten; alternativen Lebensentwürfen jenseits von Konsum und Hektik; fremden Kulturen (insbesondere China) und den reizvollen Unwägbarkeiten interkultureller Begegnungen.

Donnerstag, 13. Juni 2019

Umwege - Von China nach Bayern

Mitten in Kreuth, einem kleinen, idyllischen Ort südlich vom Tegernsee, mit Maibaum, Kuhweiden, schönen Bauernhäusern und gelegentlichen Volksmusikabenden, steht das "Wolfgang Müller Haus - Begegnungsstätte für Ostasienfreunde". Hier bin ich jetzt seit fast zwei Wochen.

Wolfgang Müller (Foto: Utz Munder)
Es ist das ehemalige Wohnhaus des evangelischen Pfarrers Wolfgang Müller. Dieser, 1911 geboren, ging als junger Mann 1938 nach China und wurde Pfarrer der evangelischen Gemeinde in Tianjin und außerdem Lehrer für Religion, Biologie und Sport an der dortigen Deutschen Schule. Nach seiner Repatriierung 1946 bekam er eine Pfarrstelle in Bad Wiesee und versuchte von dort aus, den Kontakt mit seinen ehemaligen "Schäfchen", die nun in alle Welt verstreut waren, zu halten.
Auf einem der jährlichen Hüttentreffen entstand schließlich die Idee, einen Verein zu gründen, der dieses Lebenswerk auch über seinen Tod hinaus weiterführen sollte. So wurde 1992 das "Studienwerk Deutsches Leben in Ostasien e.V."  ins Leben gerufen. Sein Ziel ist, laut Satzung, "die Verbindung mit Ostasien wachzuhalten, zurückblickend auf die eigenen Erinnerungen und offen für den ständigen Wandel."
Der Verein sammelt und archiviert vor allem Lebenserinnerungen, Dokumente und Fotos von Ostasien-Deutschen (China, Japan und Indonesien), gibt zweimal jährlich eine Mitgliederzeitschrift, das STuDeO-INFO, heraus und unterstützt Forschungsarbeiten in diesem Bereich. Selbst das chinesische Staatsarchiv war schon zu Besuch. Wolfgang Müller, langjähriger Vorstandsvorsitzender und Ehrenmitglied, stellte dem Verein nach seinem Tod sein Wohnhaus zur Verfügung, als Versammlungsort, Archiv und Begegnungsstätte. Auch Urlaub lässt sich dort wunderbar machen.

Blick von der Terrasse des WM-Hauses
Ich habe Wolfgang Müller leider nicht mehr kennengelernt. Er starb 2003, in dem Jahr, als ich nach China ging. Von StuDeO habe ich durch einen älteren Herrn erfahren, den ich zufällig im Kino traf. Ich sprach ihn an, weil er so gar nicht zum üblichen Publikum eines chinesischen Untergrundfilms passen wollte. Er erzählte mir von seiner Kindheit in China, ich ihm von meinem Chinabuch. Bei einer Lesung sahen wir uns wieder, er brachte mir ein StuDeO-INFO mit und riet mir, mal im Wolfgang Müller Haus Urlaub zu machen. Mittlerweile arbeite ich selbst am INFO mit und bin fast jedes Jahr, manchmal auch mehrmals, in Kreuth. Ich habe hier schon viele anstrengende und wunderschöne Wanderungen unternommen, im Tegernsee gebadet, mit meiner Kollegin und Freundin Hilke tagelang im Archiv die Geschichte der Chinadeutschen erforscht und mit Mann, Schwestern, Schwager und Nichten Silvester gefeiert und Schneemänner gebaut. Ich genieße den Blick von der Terrasse, die Berge sehen immer wieder anders aus. Und für die Abende oder an Regentagen bietet die Bibliothek hochinteressante Lektüre. Kreuth macht mich glücklich.

Ich bin nur rund 100 km von hier entfernt aufgewachsen, aber als ich mit 19 wegzog, hatte ich keine Ahnung, wie schön das bayerische Voralpenland ist. Berge und Natur haben mich damals auch nicht besonders interessiert. Dass ausgerechnet China mir Bayern wieder nahe gebracht hat, gehört zu den schönen Zufällen im Leben.

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