Stephan Thome: Gott der Barbaren. Roman. Berlin: Suhrkamp 2018.
"Wenn ich unter allem, was ich über Ihre Zivilisation gelernt habe, eine bewundernswerte Einsicht finde, dann diese: dass in unserer Welt nichts ein Gegenteil besitzt, das nicht zugleich es selbst ist."
Den Satz äußert Lord Elgin, Sonderbotschafter der englischen
Königin, gegenüber einer Chinesin, die kein Wort seiner Sprache versteht. Er
könnte als Motto über diesem großartigen Roman stehen, der in der Mitte des 19.
Jahrhunderts, vor allem in China, spielt. Die Kaiserdynastie ist schwer
angeschlagen: Im Süden erobern die "langhaarigen Rebellen" eine Stadt
nach der anderen. Angeführt werden sie von einem Mann, der durch Missionare mit
der christlichen Lehre in Berührung gekommen ist und nach einem Traum glaubt,
er sei der jüngere Bruder von Jesus und Gott selbst habe ihn auserwählt, mit
dem Schwert das Reich zu erobern. Dieser Taiping-Aufstand, einer der größten
Bürgerkriege der Weltgeschichte, dauerte von 1851-1864 und kostete etwa 30
Millionen Menschen das Leben.
Als der Roman einsetzt, haben die Rebellen
bereits Nanjing besetzt und zur Hauptstadt ihres "Himmlischen Reichs des
Großen Friedens" gemacht. Die "ausländischen Barbaren",
Engländer und Franzosen, nutzen die Schwäche des Kaiserreichs, um unter einem
nichtigen Vorwand den zweiten Opiumkrieg (1856-1860) vom Zaun zu brechen und
sich mit Gewalt Zugang zur Hauptstadt und zum freien Handel zu erzwingen.
Der
Roman greift die Komplexität der Gemengelage aus ständig wechselnden
Perspektiven auf. Zwei der Hauptpersonen sind historische Figuren: Zum einen
der besagte Lord Elgin, nach China gesandt, um - notfalls mit Gewalt - einen
Vertrag mit dem Kaiserhaus zu schließen. Er ist sich der Unrechtmäßigkeit
dieses Krieges bewusst, fragt sich immer wieder, was er hier eigentlich zu
suchen hat, und ist auf der anderen Seite doch überzeugt, dass England China
dem Fortschritt öffnet. Die zweite historische Figur ist Zeng Guofeng,
General der Hunan Armee, die als einzige die Rebellen im Süden noch besiegen
kann. Eigentlich ein Gelehrter, bewandert in den klassischen Schriften, war es
sein Traum ein ruhiges, kontemplatives Leben in seiner Heimat zu führen.
Pflichterfüllung gegenüber dem Kaiser hat ihn stattdessen auf das Schlachtfeld
gesetzt. Doch die Stärke seiner Armee macht den Hof gleichzeitig misstrauisch.
Die dritte Hauptperson ist eine erfundene Figur: Philipp Johann Neumann,
deutscher Missionar und ehemaliger Mitstreiter in der gescheiterten Revolution
von 1848. Er ist auf der Suche nach etwas Großem, an das er glauben und für das
er sich einsetzen kann. In China merkt er bald, dass er nicht zum Missionar
berufen ist. Aber was ist mit den Aufständischen im Süden? Wollen sie nicht
eine bessere Welt aufbauen? Unter größten Mühen gelingt es ihm, in die
"Himmlische Hauptstadt" zu kommen, doch im Laufe der Zeit verliert er
nicht nur eine Hand, sondern auch seinen Glauben an die große Idee und an die
Integrität der Rebellen. Diese drei Personen (und noch einige mehr) eröffnen im
Laufe der Romans eine vielschichtige Sichtweise auf die Konflikte und die Rolle
der einzelnen Parteien.
Doch die Größe des Romans liegt darin, dass die
historische Situation den Ausgangspunkt für grundlegende philosophische Fragen
bildet: Was macht der Krieg mit den Menschen? Warum wird man schuldig, ohne es
zu wollen? Wie können große Ideen und der Wunsch nach einer besseren Welt zur
Basis für grauenhafte Verbrechen werden? Ist das Gegenteil wirklich immer schon
enthalten?
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